Vorwort
Als wir 2014 die erste Beta-Version von The Economy (die englische Version von Die Wirschaft) online veröffentlichten, schrieb Camila Cea ein Vorwort. Damals war sie gerade Absolventin der Volkswirtschaftslehre, aber bereits Veteranin einer erfolgreichen Protestbewegung in Chile, die sich für politische Maßnahmen zur Verbesserung der wirtschaftlichen Gerechtigkeit eingesetzt hat. Sie und ihre Mitstudierenden an der Universität von Chile waren geschockt, als sie feststellten, dass in ihren Volkswirtschaftslehre-Kursen keines ihrer Anliegen zu den Problemen der chilenischen Wirtschaft behandelt wurde. Sie forderten Änderungen im Lehrplan. Der damalige Direktor der Fakultät für Volkswirtschafts- und Betriebswirtschaftslehre, Oscar Landerretche, ging auf ihre Forderungen ein. Camila ist heute Kuratoriumsmitglied von CORE Economics Education.

Camila Cea
Seitdem werden Kurse, die auf dem CORE-Text basieren, als Standardeinführung in die Volkswirtschaftslehre am University College London, an der Sciences Po (Paris), der Toulouse School of Economics, der Azim Premji University (Bangalore), der Humboldt-Universität (Berlin), der Lahore University of Management Sciences und vielen anderen Hochschulen auf der ganzen Welt unterrichtet. Im Juli 2017, während wir diese Zeilen schreiben, haben sich 3000 Lehrpersonen der Volkswirtschaftslehre aus 89 Ländern für den Zugang zu unseren ergänzenden Unterrichtsmaterialien registriert.
Camilas Perspektive auf das CORE-Projekt zu Beginn unserer Reise fängt die Motivation ein, die uns weiterhin inspiriert. Sie schrieb:
Wir wollen die Art und Weise, wie Volkswirtschaftslehre gelehrt wird, verändern. Studierende und Lehrende berichten uns, dass dies längst überfällig ist. Als die britische Financial Times im November 2013 über CORE schrieb, löste dies eine Online-Debatte über das Lehren und Lernen der Volkswirtschaftslehre aus, die innerhalb von 48 Stunden 1214 Beiträge umfasste. Studierende der Volkswirtschaftslehre auf der ganzen Welt fragten sich, wie ich es einige Jahre zuvor getan hatte: ‚Warum hat sich das Fach Volkswirtschaftslehre von unseren Erfahrungen im wirklichen Leben abgekoppelt?‘
Nataly Grisales, wie ich eine Studentin aus Lateinamerika, schrieb kürzlich in ihrem Blog über ihr Studium der Volkswirtschaftslehre: ‚Bevor ich mich für die Volkswirtschaftslehre entschied, erwähnte ein Professor, dass die Volkswirtschaftslehre mir die Möglichkeit geben würde, menschliches Verhalten mit mathematischen Werkzeugen zu beschreiben und vorherzusagen. Diese Möglichkeit erscheint mir immer noch fantastisch. Doch nach einigen Semestern hatte ich zwar viele mathematische Werkzeuge, aber alle Menschen, deren Verhalten ich untersuchen wollte, waren von der Bildfläche verschwunden.‘
Wie Nataly habe auch ich mich gefragt, ob der Unterricht in Volkswirtschaftslehre jemals auf die Fragen eingehen würde, die mich motiviert haben, Volkswirtschaftslehre zu studieren.
Und deshalb haben meine Kolleginnen und Kollegen im CORE-Team dieses Lern- und Lehrmaterial erstellt. Es hat mich wieder davon überzeugt, dass ein Studium der Volkswirtschaftslehre dabei helfen kann, die wirtschaftlichen Herausforderungen der realen Welt zu verstehen und sich darauf vorzubereiten, ihnen zu begegnen.
Machen Sie mit.
Camila und Nataly haben nicht das Beste bekommen, was die Volkswirtschaftslehre zu bieten hat. CORE hat es sich zur Aufgabe gemacht, Studierenden zu vermitteln, was Ökonominnen und Ökonomen heute tun und was sie wissen. Heutzutage ist die Volkswirtschaftslehre ein empirisches Fach, das Modelle verwendet, um Daten zu verstehen. Diese Modelle dienen Regierungen, Unternehmen und vielen anderen Organisationen als Orientierungshilfe für die Abwägungen, die sie bei der Gestaltung ihrer Entscheidungen treffen müssen.
Die Volkswirtschaftslehre kann Instrumente, Konzepte und Wege zum Verständnis der Welt liefern, die uns helfen die Herausforderungen anzugehen, die Studierende wie Nataly und Camila zum Studium der Volkswirtschaftslehre bewegt haben. Leider spielen sie in den Kursen, die Tausende von Studierenden belegen, oft keine große Rolle.
In den vier Jahren, in denen das CORE-Projekt läuft, haben wir in Hörsälen auf der ganzen Welt ein Experiment durchgeführt. Wir fragen die Studierenden: ‚Welches ist das dringendste Problem, das die Volkswirtschaftslehre angehen sollte?‘ Die folgende Wortwolke zeigt die Antworten, die uns die Studierenden der Humboldt-Universität zu Berlin am ersten Tag ihrer ersten Vorlesung in Volkswirtschaftslehre gegeben haben. Die Größe des Wortes spiegelt die Häufigkeit wider, mit der das Wort oder der Satz genannt wurde.
Die dringendsten Probleme, mit denen sich die Volkswirtschaftslehre nach Ansicht von Studierenden der Humboldt-Universität befassen sollten.
Die Wortwolken von Studierenden in Sydney und Bogota unterscheiden sich kaum von dieser (Sie können sie auf unserer Website unter www.core-econ.org betrachten). Noch bemerkenswerter ist, dass, als wir 2016 Berufseinsteiger:innen—überwiegend nach einem Studium der Volkswirtschaftslehre—bei der Bank of England und anschließend Beschäftigte des neuseeländischen Finanzministeriums und der Reserve Bank befragten, beide Personengruppen auf die gleiche Weise antworteten: Ungleichheit war das häufigste Wort, das ihnen in den Sinn kam.
Lokale und globale soziale Probleme beschäftigen junge Studierende ständig. In Frankreich, wo wir dasselbe Experiment durchführten, wurde Arbeitslosigkeit häufiger als Ungleichheit genannt. Klimawandel und Umweltprobleme, Automatisierung und finanzielle Instabilität wurden überall auf der Welt häufig genannt.
Unser Fokus auf diese realen Probleme erklärt, warum wir dieses Buch The Economy (Die Wirtschaft) und nicht Volkswirtschaftslehre genannt haben, was der Standardtitel für einführende Lehrbücher ist. Die Wirtschaft ist etwas in der realen Welt. Sie regelt, wie wir miteinander und mit unserer natürlichen Umgebung interagieren, um die Güter und Dienstleistungen zu produzieren, von denen wir leben. Im Gegensatz dazu ist die Volkswirtschaftslehre eine Art, diese Wirtschaft auf der Grundlage von Fakten, Konzepten und Modellen zu verstehen.
The Economy ist ein Kurs in Volkswirtschaftslehre. Wir beginnen immer mit einer Frage oder einem Problem der realen Wirtschaft—zum Beispiel, warum das Aufkommen des Kapitalismus mit einem starken Anstieg des durchschnittlichen Lebensstandards verbunden ist—und vermitteln dann die Werkzeuge der Volkswirtschaftslehre, die zu einer Antwort beitragen.
Auf jede Frage folgt das Material in der gleichen Reihenfolge. Wir beginnen mit einem historischen oder aktuellen Problem, auch wenn es ein komplexes ist, und verwenden dann Modelle, um das Problem zu beleuchten. Der pädagogische Ansatz von CORE stellt damit die Konvention der Volkswirtschaftslehre auf den Kopf. Traditionell werden die Modelle zuerst besprochen. Vielleicht beinhaltet die Einführung in die Modelle einen einfachen Anwendungsfall, wie zum Beispiel dem Einkaufen von Lebensmitteln und das Versprechen, dass das Modell entweder später im Kurs oder eher in späteren Kursen auf wirtschaftliche Probleme in der realen Welt angewendet wird.
Da CORE von großen Problemen und Fragen aus der Geschichte und dem aktuellen Zeitgeschehen ausgeht, müssen die Modelle und Erklärungen, die wir verwenden, reale Phänomene berücksichtigen. Zum Beispiel haben Beteiligte nie vollständige Informationen über alles, was für ihre Entscheidungen relevant ist, sie haben andere Motive als Eigeninteresse, und die Ausübung von Macht in strategischem Verhalten muss oft Teil der Erklärung für die Ergebnisse sein, die wir sehen.
Jüngste Fortschritte in der Volkswirtschaftslehre haben uns die Werkzeuge dafür an die Hand gegeben. Und da wir ökonomische Modelle auf wichtige, komplexe und schwierige Probleme anwenden, lernen die Studierenden, die mit CORE lernen, sofort sowohl die aus der Modellierung gewonnenen Erkenntnisse als auch die unvermeidlichen Unzulänglichkeiten von Modellen.
Ein globales Engagement
CORE ist in zweierlei Hinsicht ein globales Projekt. Seine Entwicklung erstreckt sich über die ganze Welt, und es steht allen offen, die es nutzen möchten, egal wo.
Ein Großteil unseres Designs und der interaktiven Funktionen wurde in Bangalore entwickelt. Die Open-Source-Plattform für unsere Texte und Online-Materialien wurde in Kapstadt erstellt. Die gedruckte Buchversion des Materials wird von der Oxford University Press veröffentlicht. Übersetzungen und lokale Adaptionen von The Economy in Französisch, Italienisch, Farsi, Spanisch, Hindi, Kannada, Russisch und anderen Sprachen sind in Vorbereitung. CORE entwickelt inzwischen auch Materialien für den Unterricht in der Sekundarstufe.
Unsere Online-Materialien stehen unter einer Creative-Commons-Lizenz, die eine nicht-kommerzielle kostenlose Nutzung in der ganzen Welt ermöglicht. Das Material wurde von Hunderten von Ökonominnen und Ökonomen beigesteuert, bearbeitet und überprüft. Die wichtigsten Autorinnen und Autoren unserer Einheiten—die alle ihr Fachwissen kostenlos zur Verfügung stellen—stammen aus 13 Ländern.
Wir sind eine Gruppe von Wissensproduzierenden, die sich für den freien digitalen Zugang zu The Economy einsetzen, um eine globale Gesellschaft aufzubauen, die durch Sprache, Fakten und Konzepte der Volkswirtschaftslehre gestärkt wird. Wir wollen, dass so viele Menschen wie möglich in der Lage sind, über die Herausforderungen der Wirtschaft, der Gesellschaft und der Biosphäre des einundzwanzigsten Jahrhunderts nachzudenken und entsprechend zu handeln. Wir hoffen, dass das Beste der Volkswirtschaftslehre dazu beitragen kann, dass alle Menschen die Probleme, mit denen wir konfrontiert sind, verstehen und zu lösen versuchen.
Derzeit hat die Volkswirtschaftslehre in der Öffentlichkeit, in den Medien und bei Studierenden den Ruf eines abstrakten Fachs, das nichts mit der realen Welt zu tun hat. Dabei ging es in der Geschichte der Volkswirtschaftslehre die meiste Zeit darum, die Funktionsweise der Welt zu verstehen und zu verändern, und wir wollen diese Tradition fortsetzen. Die frühen Ökonomen—zum Beispiel die Merkantilisten im 16. und 17. Jahrhundert oder die Physiokraten in den Jahren vor der Französischen Revolution—waren Beratende der Herrschenden ihrer Zeit. Das Gleiche gilt für wichtige Vorläufer der Volkswirtschaftslehre wie Ibn Khaldun im vierzehnten Jahrhundert. Heute setzen makroökonomische Entscheidungsträger:innen, Ökonominnen und Ökonomen des privaten Sektors, die Plattformen für die Online-Wirtschaft schaffen, Beratende für wirtschaftliche Entwicklung und Expertinnen und Experten von Think-Tanks führen dieses Engagement fort, um die reale Welt besser zu machen. Alle Ökonominnen und Ökonomen können hoffen, dass ihr Fach dazu beiträgt, die Armut zu lindern und die Bedingungen zu sichern, unter denen die Menschen sich entwickeln können. Dies ist sowohl die inspirierendste Berufung als auch die größte Herausforderung des Fachs.
Wenn Sie als studierende oder lehrende Person Interesse an unserer Herangehensweise an die Volkswirtschaftslehre haben und sich von den jüngsten Entwicklungen in diesem Fachgebiet inspirieren lassen möchten, finden Sie weitere Informationen in dem Artikel ‚Looking forward to economics after CORE‘, den Sie am Ende des Buches finden.
Die Veröffentlichung unseres fertigen Online-Textes und die Veröffentlichung desselben Materials als gedrucktes Buch im Rahmen einer Partnerschaft mit Oxford University Press sind zwei zufriedenstellende Meilensteine für uns. Aber sie sind erst der Anfang. CORE ist nicht nur ein Buch oder ein Kurs. Es ist eine wachsende globale Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden, und wir freuen uns über Ihre Neugier, Kommentare, Vorschläge und Verbesserungen unter www.core-econ.org.
Wie Camila schon vor vier Jahren sagte: Machen Sie mit!
Das CORE Team
Juli 2017